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Inhalte, Layout und Bilder auf dieser und allen andere Seiten der Website Eigentum von U. Hofmockel, 2011

Die individuelle Tournüre

 

 

Mit dem sehr variablen Begriff „Tournürenkleid“ lassen sich jedwede heutige Kleiderkreationen dieses Stils beschreiben, die genaue Modekupferreproduktion ebenso wie die kreative Spielwiese mit historischem Schnitt.

Allein schon im schmalen Feld der mit „authentischer Absicht“ genähten Kleider gibt es große Unterschiede. Manche sind mäßig gearbeitet, wirken aber gut und bei manchen steckt viel Mühe darin und trotzdem haben sie eine moderne Ausstrahlung.

Der Unterschied in der Wirkung dürfte in der zu modernen Herangehensweise liegen.

Auf der modernen Wunschliste ganz oben steht Individualität bei der Bekleidung. Die breite Bevölkerung individualisiert ihre Bekleidung durch ein Markenlabel, also durch Kauf fertiger Kleidung.

Die Nähergebnisse der prozentual wenigen Hobbyschneiderinnen sind schon per Definition individuell, da ihre Tätigkeit kreativ ist. Auch hier greifen die meisten aber auf fertige, gekaufte Schnitt zurück.

In allen Fällen beschränkt sich die individuelle Gestaltung also auf die Verwendung von Vorlagen, sowohl bei fertiger Kleidung als auch bei Schnitten und Stoffen, was ja nicht weiter schlimm ist, denn Gestaltung & Design ist nicht umsonst ein eigener Berufszweig.

 

Ein Musterbeispiel für eine einfache späte Tournüre: Wollstoff, jegliche Garnitur aus dem Kleiderstoff, Spitzenmanschetten wechselbar     Knöpfe waren als Verzierung sehr beliebt und wohl auch erschwinglich. Wollstoff, gute Verarbeitung, aber schlichte Garnitur.

 

 

Nichts anderes passierte im späten 19. Jahrhundert. Nur mit dem kleinen Unterschied, daß für einen überwältigend großen Teil der Bevölkerung fertige Kleidung unerschwinglich war. Nicht nur die Kleidung vom Maßatelier, sondern auch die Halbkonfektion aus dem Kaufhaus oder dem Versandhandel.

Nur ein Drittel der Bevölkerung um 1900 verdiente mehr als ca. 100 Mark im Monat und innerhalb dieses Drittels lebten auch nur die Wenigsten im Schlaraffenland.

Der Preis von ca. 40-60 Mark für ein fertiges Kleid ist im Vergleich zu diesem Einkommen astronomisch hoch, selbst der benötigte Stoff im Wert von ca. 10-15 Mark ist noch sehr teuer.

Die Definition für „Individualität“ ist somit eine ganz andere. Für uns ist individuell, ohne eigene Anstrengung Kleidungsstücke zu kaufen und nach Belieben zu kombinieren. Für die durchschnittliche Frau des 19. Jahrhunderts ist individuell, überhaupt etwas zu besitzen, was nur annähernd so aussieht wie die Bilder in Modezeitungen.

Und der Weg dorthin führt immer über handwerklichen Fleiß.

Vor der Kür kommt allerdings die Pflicht. Heute findet dankt Zentralheizung, Waschmaschine und Massenfertigung der praktische Aspekt bei Bekleidung nur wenig bis gar keine Berücksichtigung.

 

Schon chicer, aber wohl noch Heimarbeit: Verarbeitung nicht so dolle, aber dafür sehr zeitaufwendig, Besätze aus Samt, Wollstoff, wechselbare Spitzenmanschetten     Nur für Bessere: Fräulein in der Sommerfrische (Reuse!) mit hellem Sommerkleid, viel Schmuck und teurem Schirm. Sehr gute Paßform, vermutlich Schneiderarbeit.

 

 

 

Die gründerzeitliche Frau mit einem Jahresbudget von 1 bis 2 Kleidern war gezwungen, sich vorher genau zu überlegen, welchen Belastungen das Kleid ausgesetzt sein wird und wie lange sie es vermutlich tragen wird.

Kleider mußten lange halten und strapazierfähig sein. Bei knappem Budget fällt die Wahl also fast immer auf einen dunklen, haltbaren Stoff.

Das zeigen auch Kabinettfotos, denn entweder sind die unzähligen Bilder der hellen, feinen und sensiblen Kleider in den Schubladen der Sammler verborgen oder - was wahrscheinlicher ist - es gibt sie nicht sonderlich zahlreich. Prozentual überwiegen deutlich dunklere Gebrauchskleider. Denn  wer würde sich nicht im schöneren Kleid fotografieren lassen, wenn er es hätte?

Während wir heute frei sind in der Wahl von Farbe und Material ist die gründerzeitliche Mode somit bestimmt von Notwendigkeiten. Die Masse trägt dunklere Woll- oder Baumwollstoffe mit mäßiger Dekoration aus gleichem Stoff. Dann kommt lange nichts und nur ein kleiner gesellschaftlicher Kreis leistet sich feine Wollstoffe, Seiden und helle Farben. Dies dann aber immer in Zusammenhang mit handwerklichem Aufwand.

Das Zeitkontingent für die nähende Frau der Gründerzeit war sehr begrenzt. Eigene Entwürfe für Kleider sind schon aus diesem Gesichtspunkt betrachtet ein Luxus, von der unzulässigen Materialschlacht bei „Probeschnitten“ mal ganz abgesehen.

Sie wählte also – ganz wie die durchschnittliche heutige Hobbyschneiderin – aus einer Modezeitschrift einen Schnitt aus und setzte diesen nach besten Fähigkeiten um. Faltenwurf, Dekoration und Gestaltung bliebt dabei sehr nahe an der Vorlage, das spart Zeit und Hirnschmalz (wie heute auch im übrigen…)

Variabel ist lediglich die Farbe und ggf. noch das Material, aber selbst dabei ist es günstig, sich nach Vorgaben zu richten, denn das Materialverhalten unterscheidet sich und nicht jede Seide macht, was die Wolle vorher wollte..

Nun kommt Geld ins Spiel: Seidenkleid, üppiger Besatz aus Chantillyspitze, gute Paßform  

Auch diesem Grund sind wohl auch die vielzähligen "Zwillingskleider" von Geschwistern entstanden. Selbst als erwachsene Frauen nähten sie sich die gleichen Kleider - ein einmal kapierter Schnitt ist ein guter Schnitt...

An anderer Stelle habe ich z. B. über ein Kinderkleid geschrieben, das ich sowohl als Foto in einem Buch als auch als Kupfer in einer Modezeitung fand. Die Mutter nähte exakt das vorgegebene Kleid.

Während wir heute auf Saisonware zurückgreifen können, deren Lebenserwartung 10 Maschinenwäschen nicht übersteigt, war die Frau der Gründerzeit mit einem Jahresbudget von 1 bis 2 Kleider ist auf eine solide Verarbeitung angewiesen. Schönheit ist zweitrangig, halten muß es. Unterfütterungen, Versäuberungen, Stöße und Besätze sind somit Arbeiten von oberster Priorität. Als erfreuliches Nebenprodukt sorgen sie auch noch für einen besseren Sitz der Kleidung als ein im Winde flatterndes Stöffchen ohne Halt und Heimat.

Auch hier ordnet sich die Individualität also erstmal den Erfordernisse des Alltags unter.

Wenn es dann noch ein bisschen mehr sein darf und das Kleid individuell aufgerüstet werden kann, ist Adam Riese der Begleiter der Schneiderin.

   

 

   


Ein Faltenbesatz von 4 m Länge und 30 cm Höhe belastet den Geldbeutel mit ca. 3 Mark, kostet in der Herstellung nichts und macht was her.

Samt- und Seidenbänder oder gar Spitzen hingegen sind teuer, man braucht viele Meter und muß die meisten vor der Wäsche entfernen, was ein klares Votum für den Besatz aus gleichem Stoff und eigener Werkstatt ist.

An diesem Punkt gehen die gründerzeitliche Hausfrau und viele heutige Hobbyschneiderinnen verschiedene Wege. Die Dame der Gründerzeit tut, was sie muß und die Hobbyschneiderin das, wozu sie Lust hat.

Sich ein "Kostüm" zu nähen hat heute mit Freizeitgestaltung zu tun und nicht mit Notwendigkeit. Da es sich um eine kreative Beschäftigung handelt, lebt sich die Hobbyschneiderin auch gerne aus, was durchaus nachvollziehbar ist. Sie muß sich nicht zwangsläufig an endlosen Falten einen Wolf bügeln, sondern kann in den Laden gehen und sich etwas kaufen, da - gemessen am Einkommen - fast alles fertig Produzierte günstig ist.

Die Tatsache, daß das Selbernähen eines Kleides an sich heute schon etwas Besonderes ist, nimmt oftmals den Blick dafür, daß ein Tournürenkleid damalige Alltagskleidung war und sich die Besonderheit eines Kleides nur mit den möglichen Mittel dieser Zeit verwirklichen ließ.

Der Gründerzeitlerin blieb aus o. g. Gründen nur die Wahl von handgemachten Besätzen, um ihr Kleid aufwendig zu gestalten. Das Arrangement von Kleid und Besätzen orientiert sich dabei ziemlich dicht an Modekupfern als zeittypisches, perfektes Zusammenspiel von Entwurf, Material und Anlaß und basierte stets auf der gleichen  Grundlage: handwerklichem Fleiß.

Die  mühevolle Herstellung von geknüpften Fransen, Biesen, Paspeln, Faltenarrangements und Passen war und ist die Basis für einen wirkungsvollen Auftritt und nicht zu ersetzen.

Möbelborte, Klöppelspitzen und Co. aus der Kurzwarenabteilung werden gerne als Verzierung verwendet, weil sie "doch fast genauso aussehen" oder Spitze den Nimbus von Werthaltigkeit hat. Der Blick auf Fotos zeigt aber eindeutig, daß niemand im 19. Jahrhundert den gleichen Gedanken hatte. Die Werthaltigkeit eines Kleides wurde neben dem Grundmaterial immer durch Handarbeit erzeugt. (Oder war - beispielsweise bei Chantillyspitze - so teuer wie heute auch.)

Die moderne Herangehensweise ist "kaufen", die gründerzeitliche "machen". Der Unterschied ist optisch klar erkennbar.
 

Keine Kurzwaren, nur viel Handarbeit ein bißchen Samt, um wie ein Modekupfer auszusehen...

 

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