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Auf der Pferdebahn in Charlottenburg

Aus "Über Land und Meer", 1875

 

Der Berliner hält Charlottenburg für einen ländlichen Ort, und allerdings das ist Charlottenburg auch im Sommer zwischen fünf und sechs Uhr Morgens - um sechs Uhr fangen die Milchwagen zu rasseln, Bierwagen zu poltern, Soldaten zu marschieren, Kavallerie durch die Straßen zu ziehen, beginnen die Wagen der Pferdebahn ihren Kurs und legt sich echter berliner Staub auf die vom Nachtthau etwas erfrischen Bäume, denn Charlottenburg hat alte, schöne Bäume.

Mitten durch diese jetzt mehr als 19.000 Einwohner zählende Stadt läuft eine prächtige Lindenallee und der Schloßgarten weist frischen duftigen Rasen und herrliche, mächtige Baumpartieen auf; aber Charlottenburgs Fehler ist, gar zu nahe bei dem riesigen Berlin zu liegen. In einer guten halben Stunde gelangt man vom brandenburger Thor zu Fuß bis zum Anfang Charlottenburgs, und wenn nicht der berühmte Thiergarten dazwischen läge, wäre Charlottenburg eine Villen-Vorstadt von Berlin mit einem kleinbürgerlichen Kern von einem Marktplatz und einigen altmodischen Straßen.

Charlottenburg ist der Abschluß des Thiergartens und dieser erstreckt sich noch durch schöne Baumausläufer bis zum Schloßgarten, der am Ende der Stadt liegt. Das ist Charlottenburg - Staub und Hitze im Sommer, Schmutz und Wind im Winter, das sind seine klimatischen Verhältnisse; und doch dünkt es dem in landschaftlicher Hinsicht wenig verwöhnten Berliner ein ländliches Paradies. Die berliner Mutter, die zu ihrer Tochter sagt "Was jehen uns die rünen Bäume an" ist mehr witzig als wahr gezeichnet.

Der Berliner ist ein ganz auffallender Naturschwärmer - aus demselben Grunde, der dem Durstenden Wasser als den Inbegriff alles Köstlichen erscheinen läßt. Eine berliner Metzgersfrau, ein berliner Weißwaaren-Commis, eine berliner Näherin, ein normaler Schlosserlehrling - sie Alle können begeistert ein Kornfeld betrachten, das von einem bescheidenen stillen Tannenzug begrenzt wird. Sie können stundenlang wandern an den Ufern der uferlosen Havel, an dem gestaltlosen Müggelsee mit ihren nur aus Fichten, Sand und ernst nordisch schwer hängendem, fast endlosem Himmel bestehenden Naturschönheiten.

Die Havel und der Müggelsee sind aber zu weite Ausflüge, Charlottenburg steht gerade so in der Mitte zwischen Spaziergang und Landpartie, ist auch eine Art Station bei Havelausflügen und wandert besonders an Sonntagen eine kleine Völkerwanderung des berliner Volkes nach Charlottenburg und berührt beim Hin- oder Rückweg von der Havel oder dem Spandauer Berg diesen Ort.

So flutet denn ein ununterbrochener Menschenstrom an schönen Sonntagnachmittagen von Berlin nach dem geliebten Charlottenburg; es geht nach dem Schloßgarten, man promeniert bloß in den Straßen, die Meisten kehren hier gar nicht ein und sobald die Sonne zu sinken beginnt, fängt der Strom an zurück zu wallen von Charlottenburg nach Berlin.

Die Sonne sinkt mehr und mehr und die Auszügler von den entfernteren Punkten gesellen sich zu dieser Menschenmasse - sie sind müde und wollen die verschiedenen Fahrgelegenheiten benützen, ein großer Teil der Charlottenburgpilger ebenfalls, und jetzt beginne ein Wettrennen nach sogenannten Thorwagen, das sind Stellwagen, die nur von Charlottenburg bis zum brandenburger Thor fahren dürfen.

Zwanzig Familieväter und galante Bräutigams springen zugleich auf einen lebensmüden Wagen, vor dem ein athemloser Gaul stolpert, und dem Frechsten gehört das Fuhrwerk, das heißt, wenn der Kutscher noch im Stande ist, seinen Gaul vielleicht heute zum zwanzigsten Mal heute zur Stadt zu peitschen.

Der Mensch, wenn er von Landpartien kommt, ist grausam, der Kutscher will verdienen und die dreihundert Thorwagenpferde, die zwischen Charlottenburg und Berlin laufen, verdienen als gräßlichste Höllenopfer den tiefsten Platz im Dante´schen Höllentrichter. Aber nicht nur die Thorwagen werden attakiert und von streitenden, zankenden, kreischenden Menschen so Männlein wie Weiblein belagert, auch die Pferdebahn ist ein regelmäßiges Sturmobjekt.

Schon Goethe fand, daß "die Berliner eine verwegene Nation" sind, und der Sturm auf Düppeln wiederholt sich hier jede fünf Minuten, sobald ein Wagen seine Ankömmlinge entladen, da drängt, klettert, schiebt, stößt, kriecht, springt, schlüpft und stürmt deren eine bunte Menge auf Tritte, Bänke, Treppen in, auf, über und unter den Wagen durch und das Ding ist vollgepackt und behängt mit Menschen, wenn die Pferde davor kommen, daß man glaubt, es müßte jeden Augenblick zusammenbrechen oder auseinandergerissen werden, aber der Berliner hält aus und die Ladung rollt durch den Thiergarten zu dem klassischen Triumphthor.

Das wiederholt sich vom Nachmittag um vier Uhr etwa bis zu Mitternacht und die mancherlei Gestalten, welche hier befördert sein wollen, geben eine recht interessante und pikante Mustersammlung berliner Typen.

Da ist die blasse, pfiffe Näherin, der nobenbehandschuhte Färber, der Tapezier im Künstlerhabitus, der Stubenmaler mit rafaelischem Haar, der als Oekonom verkleidete kleine Bauernfänger, der als Stock-Engländer maskierte Taschendieb - die geprüfte, redefertige, fette Familienmutter und der etwas beduselte, aber in seiner Grobheit stets außerordentlich klare Familienvater; da ist der fliegende Cigarrenverkäufer mit der Holzkiste am Riemen um den Hals und das musterhaft häßliche Blumenmädchen, der wohlgenährte Unteroffizier mit den hellen Ostpreußenaugen und den kreideweißen Handschuhen, und sein vis-a-vis, ein "kleiner Schneider", der träumt von unbezahlten Rechnungen; dazwischen klemmt und drückt sich die hoffnungsvolle Jungend und rächt sich durch schnöde Witze über die Raumverengung durch die Großen.

So geht es dann zum Ausladeplatz und zurück rollt das Gefährt, um eine neue lebendige Ladung zur Stadt zu schleppen - das ist der Schluß des Sonntagnachmittagsvergnügens in Charlottenburg.


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